Freitag, Januar 12, 2018

Was Suizid mit dem Umfeld macht

Ich werde euch nun erzählen, was bei mir in der Schule los war, als ein Junge aus meiner Stufe vor einigen Monaten Suizid beging. Vielleicht interessiert es euch, was so ein Vorfall mit dem Umfeld "Schule" macht.

...eine Woche zuvor...
Alles ist wie immer. Der schüchterne, blonde Junge sitzt wie immer vor mir im Deutschunterricht. Und im Chemieunterricht. Ich kenne ihn nicht besonders gut, ich kenne ihn nur aus den Kursen.

...am Tag, als es passierte...
Es ist Montag und der Junge war heute nicht in der Schule. Aber niemand macht sich Sorgen. Niemand vermutet etwas. Die Eltern von ihm denken, er ist auf einem Schulausflug. Deswegen fangen sie auch erst abends an, ihn zu vermissen. Die ersten Fragen im Stufenchat; wie lange der Ausflug vom Chemiekurs denn ging. Ich, aus jenem Chemiekurs, habe keine Ahnung um welchen Ausflug es geht... Jemand sagte, er sei nicht nach Hause gekommen. Die Eltern suchen ihn. Im Stufenchat: Hat er Stress zuhause? Ist er vielleicht bei einem Freund? Hat er eine Freundin? Ist er bei ihr? Ich denke daran, dass er Suizid begangen haben könnte. Nein, er wird schon wieder auftauchen. Bestimmt löst sich die Situation wieder auf.

...der nächste Tag...
Die ersten zwei Stunden hält jemand eine GFS in meinem Kurs. In der Zeit habe ich gar nicht mehr an das Verschwinden des Jungen gedacht. Doch dann, dritte Stunde in Deutsch, kommt unsere Lehrerin. Ihre Augen waren glasig. Das erste, was sie sagte, war, dass der Junge gestern gestorben sei. Absolute Stille. Ich bekam einen Kloß im Hals, versteinerte. Weitere Stille. Uns wurde gesagt, dass es wahrscheinlich Suizid war. Ich traute mich fast nicht, doch dann fragte ich mit zitternder Stimme, woran er gestorben sei. Er ist wo runter gesprungen. Niemand wusste, was er sagen soll. Ich sah meiner Lehrerin an, wie mitgenommen sie war. Sie war nicht die einzige, die weinte. Der Unterricht war in jeder Hinsicht erstmal lahm gelegt. Ich saß mit ein paar Mitschülern nur irgendwo rum und bekam kein Wort raus. Der Tag war grausam. Ich ging bald nach Hause, aber dort war ich erstmal allein. Ich wollte nicht allein sein.

...die folgenden Tage...
Es wurde eine Trauerfeier in unserer Schule veranstaltet. Nach ihr stand die gesamte Stufe schweigend in der Cafeteria. Niemand wusste, was er sagen oder machen sollte. Nicht einmal die Lehrer. Dieses trauernde, hilflose Schweigen zog sich durch alle Unterrichtsstunden. Sogar mit Freunden- nichts als Schweigen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, ich wollte nicht reden, aber ich wollte dass mir jemand was erzählt. Es war für alle eine schwierige Situation. Es wurde ein Raum für die nächsten Wochen an unserer Schule eingerichtet; mit einem Gästebuch, Kerze, Blumen und Bild von ihm. Er war schön eingerichtet.

...vier Tage später...
Die 6. Stunde fiel für die gesamte Stufe aus. Wir alle gingen zur Beerdigung. Die Aussegnungshalle war überfüllt. Aber alle stellten sich hinten hinein. Dann wurde der Sarg hinein gebracht. Einige Mitschüler erzählten Geschichten, die sie mit ihm erlebt hatten und sagten ein Gedicht auf. Wir alle sangen "Yesterday". Das Herzzereißende war jedoch, als jeder seine weiße Rose in das Grab warf und den Angehörigen kondolierte. Die ganze Beerdigung war ich so stark geblieben und habe nicht geweint, aber als ich da vor dem Grab stand und auf den Sarg hinab schaute, erwischte es mich doch.

...die nächsten Wochen...
Wir alle mussten unser Leben fortsetzen. Ich kann euch nicht sagen, wie es für die Eltern weiterging. Wie sie Weihnachten, das Fest der Liebe, ohne ihren geliebten Sohn verbringen mussten. Oder wie andere Nahestehende leiden mussten. In der Schule musste der Alltag wieder einkehren.In Deutsch stand an seinem Platz eine Kerze, die wir anzündeten. 
Ich denke immer noch manchmal daran. Es ist schwer, zu beschreiben, was in dieser Woche mit der gesamten Stufe/Schule passiert ist. Manchmal sind es die Details, die Schwere ausdrücken. Dass in Religion niemand ein Wort herausbekommen hat und wir dann zur Kirche sind und Kerzen angezündet haben; dass in Deutsch sofort welche los sind und eine Trauerkarte besorgt haben, während wir einen Brief an die Familie schrieben; dass alle Klausuren verschoben worden sind und der Unterricht größtenteils freiwillig war, sofern er statt fand. Dabei kannten ihn viele gar nicht oder nur flüchtig. Aber jeden einzelnen nahm es mit. Ich kann nur sagen, es war eine schlimme Schulwoche. Ich habe die ersten Tage nicht klar denken können; an nichts anderes denken können. Ich hatte ständig Kopfkino.

Ich persönlich habe mich in der Vergangenheit schon oft gefragt, wie mein Umfeld auf (meinen) Suizid reagieren würde. Immer und immer wieder habe ich es mir ausgemalt. Ich wünschte, ich hätte es nie erfahren.

✝ R.I.P.✝

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